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JAHRESKREIS
12. WOCHE – MONTAG

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Der Splitter im Auge des anderen

Richtet nicht … Demut und Sachlichkeit.
Brüderliche Zurechtweisung in Geduld und Liebe.
Maßstäbe der Kritik.

I. Die Worte des heutigen Evangeliums1 klingen wie eine Verinnerlichung der Werke der Barmherzigkeit ins eigene Herz hinein, für die Außenstehenden unsichtbar. Denn es geht um eine anteilnehmende, barmherzige, beherrschte Zurückhaltung, wenn wir andere richten. Der Herr sagt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! »Der Sinn dieser Worte ist nicht: Richtet die Menschen nicht, dann werden sie auch euch nicht richten (wir wissen ja aus Erfahrung, daß es nicht immer so ist), sondern der Sinn ist vielmehr: Richte deinen Bruder nicht, damit Gott dich nicht richtet; ja, besser noch: Richte den Bruder nicht, denn Gott hat auch dich nicht gerichtet.«2

Natürlich kann man im Leben nicht ganz ohne Urteilen und Beurteilen auskommen. Beobachtungen sind mit Wertungen verbunden. Aber eines ist, sich ein Urteil zu bilden – etwa über fremde Meinungen oder Verhaltensweisen – und etwas anderes, über einen Menschen zu richten. »Man muß nicht in erster Linie unserem Herzen das Urteil abgewöhnen, sondern vielmehr unserem Urteilen das Gift entziehen! Das heißt: die Mißgunst, die Verdammung.«3

Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? »Der Herr vergleicht die Sünde des Nächsten (die Sünde, über die gerichtet wird), wie auch immer sie aussehen mag, mit einem Splitter im Vergleich zu der Sünde dessen, der richtet (die Sünde des Richtens), die ein Balken ist. Der Balken ist die Tatsache des Richtens selbst, so schwerwiegend ist sie in den Augen Gottes.«4

Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Laß mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Die verborgene Neigung zur Überheblichkeit läßt uns leicht negativ urteilen, was oft ungerecht ist. Es kann sein, daß man die kleinen Fehler des Nächsten aufbläht, um sie – uneingestanden – als Alibi für die eigenen, objektiv vielleicht viel größeren Fehler zu benutzen.

Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. Der Stolz neigt dazu, eigene Unzulänglichkeiten und Fehltritte in andere zu projizieren. Die Demut indes schärft den Blick für die eigenen Armseligkeiten und schult ihn für die Armseligkeiten des Nächsten. Man ist dann bemüht, sie zu verstehen, zu verzeihen – und, wo möglich, zu helfen. Man beurteilt dann einen Sachverhalt, ohne die Person zu verurteilen.

Das Richtet nicht … appelliert nicht nur an die menschliche Selbstkenntnis, die das Verstehen erleichtert, sondern es fordert zu einem sachlichen Blick auf, der wirklichkeitsgemäß ist. Wie oft müssen wir erfahren, daß wir uns in der Beurteilung eines Menschen geirrt haben. Das ist nicht weiter verwunderlich, dringt doch nur Gott ins Herz und sieht die innersten Absichten; wie beschämend ist dann oft unser vorhandenes, leichtfertiges Urteilen.

Während Stolz und Überheblichkeit uns zum Aburteilen verführen wollen, verhilft eine aufrichtige Demut zum Verstehen und zum Entschuldigen, so daß selbst bei offenkundigen, unleugbaren Fehlern die Brücke der Gemeinsamkeit bleibt.

Die Demut befähigt uns, fremde Begabungen und Qualitäten neidlos anzuerkennen. Die heilige Theresia rät, »immer nur auf die Tugenden und guten Werke anderer zu sehen, ihre Fehler aber mit unseren großen Sünden zu bedecken. Wenn dies auch gleich anfangs nicht so vollkommen von uns geschieht, so werden wir uns dadurch doch allmählich eine große Tugend erwerben, nämlich die, daß wir alle Menschen für besser halten als uns selbst. Der Anfang ist alsdann schon gemacht, um mit der Gnade Gottes dahin zu gelangen.«5

II. Wie lehrreich ist eine Lektüre des Evangeliums unter dem Aspekt der Unzulänglichkeiten der Jünger und zu sehen, wie der Herr darauf reagiert. Wie versteht er es zu tadeln! »Das Tadeln der Seinen geschieht aus Liebe und immer verbunden mit dem Gnadengeschenk der Erleuchtung: daß sie den Tadel verstehen und an ihm wachsen. Wie hart fährt er Petrus, den gerade eben erst unter allen Aposteln Herausgehobenen, an, als dieser in so rührend-leibwächterhafter Art ihn vom Weg des Leidens abhalten möchte: >Hinweg von mir, Widersacher, du bist mir ein Ärgernis, da du nicht nach Gottes Gedanken, sondern menschlich denkst!< (Mt 16,23). Niemals ist ein Mensch schrecklicher gerügt worden für verkehrte Liebe als hier Petrus. Unsere Phantasie reicht kaum aus, uns vorzustellen, wie diese Worte Petrus ins Innerste und unglaublich schmerzlich getroffen, aber auch was sie im Hinblick auf die eigene und der Kirche Zukunft bewirkt haben müssen. Daneben die gütige Zurechtweisung des Philippus, der ihn bittet: >Zeige uns den Vater, und es genügt uns.< >So lange Zeit bin ich unter euch – und du hast mich nicht erkannt, Philippus?< (Joh 14,8-9). Was schwingt da doch alles mit: etwas menschliche Traurigkeit, Enttäuschung, ja der so menschliche Schmerz, nicht erkannt zu werden von den nächsten, den geliebtesten Freunden. Dann wieder diese äußerst feinfühlige Korrektur bei Martha, der Schwester der Maria und des Lazarus: >Martha, Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um viele Dinge – eins nur ist nötig. Maria hat sich den besten Teil erwählt, der ihr nicht weggenommen wird.< (Lk 10,41-42). So spricht ein vertrauter Freund des Hauses. Er darf die Hausfrau mahnen, einmal die Küche sein zu lassen und lieber zuzuhören, weil die rechte Stunde dazu da ist.«6

Im Umgang untereinander sind die Jünger manchmal neidisch, manchmal ungehalten, manchmal auch recht kindisch, etwa wenn sie nach den ersten Plätzen schielen. Jesus liebt sie deswegen nicht weniger, er liebt sie mit ihren Fehlern. Wenn er sagt: das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!7, dann dürfen wir dieses Wort auch so verstehen: den Nächsten lieben, wie er ist, und so, wie wir uns lieben: mit unseren Fehlern, aber auch mit dem festen Willen, uns von ihnen zu befreien.

Das Gebot der Nächstenliebe ist universal und schließt keinen aus, kennt aber natürlich eine Rangordnung: da sind zuerst jene, die uns wirklich nahe stehen: die eigene Familie, Freunde, Arbeitskollegen, Nachbarn … Dieses Gebot meint nicht einen idealen Menschen, den es nicht gibt, sondern immer konkrete Menschen – mit labilem Charakter die einen, andere zum Mißmut neigend, egoistisch oder großtuerisch.

Angesichts der Fehler unseres Nächsten ist die christliche Antwort: verstehen, beten und – wo es angebracht ist – helfen durch die brüderliche Zurechtweisung, die der Herr selbst empfohlen hat.8

Die brüderliche Zurechtweisung kann als Frucht der Liebe nur wirksam sein, wenn sie mit wohlwollendem Herzen und sachlich präzise vorgenommen wird. Der Tadel unter vier Augen vermeidet die Bloßstellung des Getadelten und gibt ihm Gelegenheit, seine Fehlhaltung unauffällig zu korrigieren. Solche Loyalität unterbindet das Laster der üblen Nachrede hinter dem Rücken des anderen.

III. Das selbstkritische Gespür für den Balken im eigenen Auge erleichtert Kritik dort, wo sie zur Pflicht wird. Dann gerät sie nicht verletzend, sondern achtet feinfühlig auf die Würde des anderen, im Wissen, daß wir seine Absichten immer nur zum Teil kennen können.

Menschliche Rechtschaffenheit erfordert, nicht über Fragen zu urteilen, deren Zusammenhänge man nicht kennt. Wer aufgrund eines bloßen Eindrucks ein unabänderliches Urteil fällt und weitergibt, läuft die Gefahr der Verleumdung oder übler Nachrede. Viel weniger darf man sich am Verbreiten von Gerüchten, die vielleicht der Reputation eines Menschen oder einer Institution schaden, beteiligen.

Dies gilt besonders auch, wenn es um Kritik an kirchlichen Zuständen geht. In einem Text des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt es von den Laien, daß sie »die Möglichkeit, bisweilen auch die Pflicht« haben, »ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären,« und zwar »entsprechend dem Wissen, der Zuständigkeit und hervorragenden Stellung, die sie einnehmen«9. Sie sind also »berechtigt und manchmal sogar verpflichtet, sich zu all jenen Fragen, zu denen die kirchliche Autorität nicht definitiv Stellung genommen hat, ihre eigene Meinung zu bilden und diese auszudrücken (…). Dieses Recht hat seine tiefere Begründung letztlich in der Tatsache, daß Meinungsbildung und Meinungsäußerung ein Naturrecht darstellen.«10

Die Ausübung dieses Rechtes erfordert die Läuterung der Absicht im Gebet: »in Wahrhaftigkeit, Mut und Klugheit, mit Ehrfurcht und Liebe gegenüber denen, die aufgrund ihres geweihten Amtes die Stelle Christi vertreten«11.

Wir lernen, die Kirche trotz der Armseligkeiten ihrer Glieder zu lieben. Man begreift, »daß die Kirche nicht die unsere ist, sondern die Seine. Folglich können sich die >Reformen<, die >Erneuerungen< - so nötig sie auch sind - nicht in unserem eifrigen Bemühen um neue, verfeinerte Strukturen erschöpfen. Alles, was bei einer solchen Mühe herauskommen kann, ist eine Kirche >von uns<, nach unserem Maß, die zwar interessant sein kann, aber deshalb nicht schon von sich aus die wahre Kirche ist, jene, die den Glauben trägt und uns das Leben im Sakrament gibt. (...) Wahre >Reform< ist dort, wo wir uns bemühen, das Unsere soweit wie möglich verschwinden zu lassen, damit das Seine, das Christus Gehörende besser sichtbar wird. Da in der Kirche unvermeidlich immer wieder sehr viel Unsriges entsteht, folgen daraus für jede Generation große Aufgaben wahrer Reform. Wegweiser müssen dabei die Heiligen sein, die die Kirche reformierten, nicht indem sie Pläne für neue Strukturen erarbeiteten, sondern indem sie sich selbst reformierten. Was die Kirche braucht, um in jedem Zeitalter auf die Bedürfnisse des Menschen zu antworten, ist Heiligkeit und nicht Management.«12

Glaubend sieht man Christus auch dort am Werk, wo menschliche Unzulänglichkeiten sein Bild entstellen. Liebend sieht man die Fehler der anderen auf dem Hintergrund ihrer Tugenden und Qualitäten; demütig sind wir uns unserer Fehler wohl bewußt. So gelangen wir zur Reue, zum Verständnis und, trotz eigenen und fremden Versagens, zur Hoffnung. Und wir danken Gott für die Menschen, die uns mit ihrer Kritik beistehen.

1 Mt 7,3-5. – 2 R.Cantalamessa, Das Leben in Christus, Graz 1990, S.233. – 3 ebd. – 4 ebd., S.231-232. – 5 Theresia von Avila, Leben, 13,10. – 6 P.Berglar, Petrus – Vom Fischer zum Stellvertreter, München 1991, S.44. – 7 Gal 5,14. – 8 vgl. Mt 18,15. – 9 II.Vat.Konz., Konst. Lumen gentium, 37. – 10 A.del Portillo, Gläubige und Laien in der Kirche, Paderborn 1972, S.115. – 11 II.Vat.Konz., a.a.O. – 12 J.Ratzinger, Zur Lage des Glaubens, München 1985, S.53-54.